Befreiungsfeier 2021: Gedenken am „Platz des Zeltes“

18. April 2021

Das „Zelt“ wurde im ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück wohl Mitte August 1944 errichtet. In ihm wurden zeitweise bis zu 4000 Frauen und Kinder untergebracht: deportierte Jüdinnen aus Auschwitz und dem aufständigen Warschau sowie direkt aus Ungarn deportierte Jüdinnen und Romnja. In dem Videobeitrag erinnern wir mit Berichten von Überlebenden an diesen Ort.

Text zum Video:

Kurzbeschreibung zum Gedenkort Platz des Zeltes

Das „Zelt” wurde im ehemaligen Frauenkonzentrationslager Ravensbrück wohl Mitte August 1944 errichtet, als das Lager aufgrund der vielen eintreffenden Transporte hoffnungslos überfüllt war. In ihm wurden
zeitweise bis zu 4000 Frauen und Kinder untergebracht: deportierte Jüdinnen aus Auschwitz und dem aufständigen Warschau sowie direkt aus Ungarn deportierte Jüdinnen und Romnja.

Das vermutlich 50 Meter lange graugrüne Zelt befand sich zwischen den Blöcken 24 und 26 auf einer morastigen Senke. Im ganzen Zelt gabe es keinerlei Mobilar. Die Frauen und Kinder mussten auf dem nackten oder nur mit einer dünnen Strohschicht bedeckten Steinfußboden in der Regel ohne wärmende Decken schlafen. Es gab keinerlei sanitären Anlagen, der Boden war mit Kot bedeckt und die Exkremente quollen aus dem Zelt heraus. Es herrschten extreme Enge, Kälte und ein chronischer Mangel an
Lebensmitteln.

Das „Zelt“ entwickelte sich zum Zentrum „systematischer Verelendung“, zu einer Region des Sterbens im Lager. Bis zu 40 Frauen erlagen pro Tag dem Hunger, der Kälte und der Erschöpfung. Nach Ankunft im „Zelt“ warteten sie auf die Zuteilung zu einem anderen Block, zu einem Arbeitseinsatz in den Außenlagern oder auf den Tod. Der Kontakt zu anderen Inhaftierten war nicht gestattet.

Diejenigen, die nicht nach einer Weile in Blocks des Hauptlagers und in Außenlager verlegt wurden und den Aufenthalt im Zelt überlebt hatten, wurden ins KZ Bergen-Belsen deportiert und dort vergast.

Das Zelt bestand bis etwa Ende Februar 1945.

Am 30. April 1945 wurde das KZ Ravensbrück von der Roten Armee befreit.

(Quellen: Bernhard Strebl: Das KZ Ravensbrück: Geschichte eines Lagerkomplexes, Paderborn 2003, S. 187-190. / MGR/SGB)

Zitate zum Gedenkort Platz des Zeltes

Innenperspektive

Endlich durften wir anhalten. Vor uns eine mit Stroh bedeckte Fläche, darüber ein gewaltiges Zeltdach ohne Seitenwände. Betsie und ich fanden einen Platz an der Zeltseite und setzten uns dankbar. Doch sofort sprangen wir wieder hoch: Flöhe! Das Stroh lebte förmlich. […]
Gegen Abend entstand Bewegung an der einen Zeltseite. SS-Leute liefen quer durch und trieben Frauen aus dem Zelt hinaus. Wir schnappten unsere Decken, als sie in unsere Nähe kamen. Ungefähr 100 Meter von unserem Platz entfernt hörte die Jagd auf. Wir standen, da wir nicht wußten, was wir tun sollten, ziellos herum und warteten. […]
Langsam begriffen Betsie und ich, daß wir die Nacht an der Stelle verbringen müßten, auf der wir gerade standen. Wir legten meine Decke auf den Boden, uns nebeneinander darauf, und deckten uns mit Betsies Decke zu. […]
Mitten in der Nacht weckte uns ein Donnerschlag, gefolgt von einem Schauer. Die Decken waren bald durchweicht, und unter uns bildeten sich Pfützen. Gegen Morgen war das ganze Gelände eine ausgedehnte Matschfläche. Hände, Kleider und Gesichter waren schwarz vom Modder. Wir waren noch damit beschäftigt, unsere Decken auszuwringen, als der Befehl kam, uns in Reihen aufzustellen, zur Kaffeausgabe. Natürlich war es kein Kaffee, aber von ähnlicher Farbe, und wir waren dankbar, überhaupt etwas zu bekommen. Wir schoben uns in Doppelreihen an der improvisierten Feldküche vorbei, jede Gefangene bekam auch eine Scheibe Schwarzbrot, dann nichts mehr. Erst spät am Nachmittag gab es eine Kelle Steckrübensuppe mit einer gekochten Kartoffel.
In der Zwischenzeit mußten wir auf dem durchweichten Gelände, auf dem wir nachts geschlaffen hatten, in strammer Haltung stehen. Wir standen so dicht an der Umzäunung, daß wir die dreifach gezogene Doppelreihe von unter Strom stehenden Drähten gut sehen konnten.

Zitat von Corrie ten Boom. Sie half Untergetauchten in den Niederlanden und wurde im Herbst 1944 nach Ravensbrück deportiert. Ihre Schwester Betsie wurde in Ravensbrück ermordet. (Quelle: Dunya Breur: Ich lebe, weil Du Dich erinnerst. Frauen und Kinder in Ravensbrück. Berlin 1997, S. 187f.)

Jetzt erst sahen wir das Zelt in seinen ganzen Aumaßen. Es war in zwei Teile geteilt, in einem waren wir, etwa 800 Jüdinnen und 200 Romnja [1] [aus Ungarn], im anderen genauso viele Unglückliche aus
Frankfurt [-Walldorf] und Auschwitz. Sie glichen schon keinen menschlichen Gestalten mehr, sie waren nur noch in Lumpen gehüllte barfüßige Phantome [aus Auschwitz], die umfielen wie Fliegen. Wenn sie krank waren, kümmerte sich niemand um sie, und wenn sie starben, wurden sie von ihren Gefährtinnen hinausgetragen.“

Katò Gyulai wurde mit ihrer Schwester Evi als ungarische Jüdin 1944 aus Budapest nach Ravensbrück deportiert. (Quelle: MGR/SGB)

Außenperspektive

Im Januar 1945 war Hanka Zaturska die Blockälteste des ‚Zeltes‘. Sie zerriss sich förmlich, um den Frauen zu helfen. Ständig abgehetzt, ständig in fieberhafter Eile brachte sie zum Zelt was nur ging: mal ein wenig Brot, Unterwäsche oder Kopftücher, da sie von der Wäschekammer offiziell nichts bekam. Sie erhielt für die etwa tausend ungarischen Jüdinnen, die unter dem Zeltdach ohne Betten leben mussten, lediglich das, was die Polinnen, die in der Wäschekammer arbeiteten, für sie stahlen. Hanka erlebte das Zelt als schrecklich. […] Dank ihrer Bemühungen wurden im Zelt dreistöckige Betten aufgestellt. 3.000 Gefangene mussten zusammengedrängt in ihnen hausen. Von Ferne war ihr Weinen und Jammern zu hören. Nach sechs Wochen rochen wir es überall. Eine fast schwarze Wolke Qualm drückte sich in jede Ecke des Lagers. Hanka bemühte sich nach ganzen Kräften, einige der Gefangenen in anderen Blöcken zu verstecken.

Es berichtete Renée Skalska. Sie wurde aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Untergrundorganisation „Orzeł Biały“ verhaftet und 1940 von Tarnów aus nach Ravensbrück deportiert. (Quelle: Urszula Wińska: Zwyciężyły wartości, wspomnienia z Ravensbrück, Gdańsk 1985, S. 204.)

Am Abend, wenn wir zu zweit in einer Koje lagen, konnten wir die Schreie hören, die die ganze Nacht über aus dem Zelt drangen. Wir empfanden eine unbenennbare Scham bei dem Gedanken, daß wir nichts unternehmen konnten, um den armen Teufeln zu helfen, die in unserer unmittelbaren Nähe in einer Not und einem Unglück lebten, wenn man das noch so nennen kann, im Vergleich zu dem unser Block, unsere Betten und Decken äußerster Luxus waren.

Zitat von Denise Dufournier, französische Widerstandskämpferin und Anwältin. Sie wurde Anfang 1944 nach Ravensbrück deportiert. (Quelle: MGR/SGB)

Solidarität

Wir vermögen die Steckrüben mit den Kartoffelschalen schon nicht mehr zu essen! Niemand im Block will ‚Nachkelle‘. Es bleiben zwei Kübel Abendessen übrig.
Wir könnten sie ins Zelt bringen. Dort hat man Hunger, Hunger!
[…]
Wir gehen los. Draußen Pfützen, Schneematsch, peitschender Wind schlägt uns Regen ins Gesicht. Die Kessel sind schwer, es ist dunkel, wir müssen vorsichtig gehen. Da steht das ‚Zelt‘: 50 Meter lang, ohne Fenster, an beiden Seiten ein Eingang, mit 2000 Menschen und deren Schrecknissen, deren Elend. Zugänge aus Auschwitz, ungarische Jüdinnen mit ihren Kindern. Vor dem Eingang Geschrei und Handgemenge; der Posten schlägt mit einem Stock, ich werde nicht klug, um was es geht. Endlich komme ich durch, ich muß zur Blockältesten. Wieviel Trauriges habe ich schon gehört vom ‚Zelt‘. Aber – es legt sich mir wie ein schwerer Stein aufs Herz – kann das möglich sein? Können Menschen atmen in dieser Luft? Gestank wie in einem Raubtierkäfig eines Zoos; nasses verfaultes Stroh!
[…]
Die ersten am Boden kauernd, frierend, aneinandergepresst, nackte Füße, zerissene, fleckige Seidenkleider, dahinterstehend die anderen, immer mehr nach vorn drängend, mit Bechern, Flaschen, Schüsseln, Näpfen in den Händen, eine unzählbare Masse, jetzt unheimlich ruhig. Sie warten auf das Essen! Wird man sie davon abhalten können, sich darüber zu stürzen? Wie mußten sie leiden, oh, diese Armen, um in diesen Zustand zu kommen! Und noch kein Ende dieser Leiden! Stehen und warten, hungern und frieren, kämpfen um einen halben Becher Essen und einen Schluck Kaffee! Schmutz und Gestank, kein Wasser, müssen sie nicht zu Tieren werden? Ich erzähle der Blockältesten leise, daß wir draußen zwei Kübel Essen haben. Gut, gut! Wenn das andere Essen abgeholt wird, dann wird man das mit verteilen! Ein klein wenig mehr für einige! Wir gehen ‚Heim‘ ins unseren Block, müde, müde. Stein, Stein, wie liegst du schwer in mir!
Keine Hilfe, keine Rettung für sie!?
Tod, Tod!? Ihr Mörder, ihr tausendfachen Mörder!“

Zitat von Ilse Hunger. Sie beteiligte sich an der Herstellung von antifaschistischem Material und wurde 1941 verhaftet und ein Jahr später nach Ravensbrück deportiert. (Quelle: MGR/SGB)

Ende / Abbau des Zeltes

Im Februar 1945 bezieht ein Kordon SS-Leute mit der Maschinenpistole in der Faust rund um das Zelt Stellung, Tag und Nacht und unter starker Scheinwerferbeleuchtung. Eine Französin berichtet, wie die SS-Leute in einer Februarnacht plötzlich in das Zelt eindrangen und die Romnja [1] herausholten – zuerst die Kinder, die ihren schreienden Müttern entrissen wurden, dann die Erwachsenen. Wie viele es genau waren, ist nicht bekannt, […]. Ende Februar oder Anfang März wird innerhalb von zwei Tagen das Zelt abgebaut und der angefallene Berg Unrat fortgeschafft. Der Platz sieht so sauber und ordentlich aus, als ob hier
nie etwas gewesen wäre. Das von den Alliierten am 23. März 1945 aufgenommene Luftbild zeigt deutlich diesen leeren, unbebauten Raum zwischen den Blocks 24 und 26. keinerlei Spuren sind von dieser Untat zurückgeblieben, keine Liste, kein ausgeschriebener Befehl. Einzig Kommandant Suhren bekundete bei seinem Prozeß einen gewissen Stolz darauf, daß es ihm gelungen war, zu seiner Zeit, wo es nirgendwo mehr irgend etwas gab, zwei Zelte aufgetrieben zu haben.

Zitat von Anise Postel-Vinay. Sie war Mitglied in der Résistance und wurde 1942 in Paris verhaftet und im Oktober 1943 nach Ravensbrück deportiert. (Quelle: Anise Postel-Vinay: Die Massentötungen durch Gas in Ravensbrück. In: Germaine Tillion: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Lüneburg 1998, S. 389.)

[1] An dieser Stelle stand im Original das Z.-Wort. Wir gehen davon aus, dass die zitierte Person es nicht diskriminierend meinte, und haben es daher durch die Eigenbezeichnung Romnja ersetzt.

Der Text und die Zitate wurden auch in einem PDF-Dokument zusammengestellt – ergänzt mit der Zeichnung „De grote Tent“ („Das große Zelt“) von Aat Breur, Ravensbrück 1944, sowie gezeichneten Porträts der zitierten Überlebenden. Hier gibt es das PDF zum Herunterladen: