Befreiungsfeier 2021: Gedenken auf dem Friedhof in Fürstenberg

17. April 2021

In diesem Videobeitrag gedenken wir den polnischen Frauen, die in Ravensbrück ermordet wurden.

Deutsche Fassung:

Polnische Fassung [po polsku]:

Text zum Video:

Zu spät

Ich sehne mich nach längst vergangenen Tagen,
dem Verlangen, zu handeln,
den süßen Träumen der Jugend.
Ich sehne mich nach allem und ich sehne mich nach nichts.

Ich bedauere Tage, die ich sinnlos verbrachte,
meine Lebenszeit, die so vergeudet wurde.
Ich bedauere, dass ich schon nichts mehr tun kann.
Ich bedauere die Zeit, die durch Dummheit verdorben wurde.

Und ich sehne mich so unendlich,
aber sehne mich schon ohne Sinn:
Denn für mich hat alles geendet.
Selbst das Bedauern läuft ins Leere.
Zu spät.

Józefa Kęszycka – Gefängnis Pawiak, Warschau, 1941

Wenige hundert Meter von der Bundesstraße 96 liegt der kommunale Friedhof Fürstenberg. Im dortigen Krematorium, dessen Anlage sich bis heute im Keller der Trauerhalle befindet, ließ die SS bis zum Frühjahr 1943 die Toten des KZ Ravensbrück einäschern. Die Asche sei in eine „große Kuhle auf dem Friedhof geschüttet“ worden, heißt es im Ausstellungskatalog der Mahn- und Gedenkstätte. Der Friedhof Fürstenberg stellt also ein Massengrab vieler, namentlich nicht bekannter Frauen und Männer dar, ehemaliger Gefangener des KZ Ravensbrück aber wohl auch, wie ein Mitarbeiter des Friedhofs 1948 berichtete, des KZ Sachsenhausen. Daran wird bislang nirgendwo auf dem Friedhof erinnert.

44 Jahre nach der Befreiung des KZ Ravensbrück wurden im Sommer 1989
bei Grabungsarbeiten auf dem Friedhof Reste von Urnen und Urnenmarken
gefunden, die nicht in der Gräberliste des Friedhofs erfasst waren. Recherchen der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück konnten die Funde 39 Polinnen zuordnen, die mit Todesurteil nach Ravensbrück deportiert und dort erschossen worden waren. Die Mahn- und Gedenkstätte ging 1989 davon aus, dass „bei nächsten Grabungen auf dem Friedhof weitere Urnen gefunden werden.“ Der Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis ist jedoch nicht bekannt, dass es danach zu solchen Ausgrabungen gekommen ist.

Im April und Oktober 2019 führte das Institut für das Nationale Erinnern (Instytut Pamięci Narodowej) Polen erstmals auf deutschem Boden Ausgrabungsarbeiten auf dem Friedhof nach weiteren Urnen durch und errichtete im Oktober 2020 ein Denkmal.

Die Lagergemeinschaft möchte in diesem Jahr die Biografie einer der ermordeten Widerstandskämpfer*innen vorstellen: Józefa, genannt Józka, Kęszycka wurde am 7. März 1920 in Błociszewo, 40 Kilometer südlich von Poznań als siebtes von acht Kindern geboren. Ihr Vater Daniel stammte aus einer traditionsreichen polnisch adeligen Familie, die Großgrundbesitzer und Eigentümer eines stattlichen Palastes in Błociszewo waren. Daniel selbst wurde in England geboren, wuchs dort auf, ging jedoch nach Błociszewo, um sich des geerbten väterlichen Hofes anzunehmen. Er kämpfte 1919 im Großpolnischen Aufstand mit, in dem es um die Frage der Zugehörigkeit Großpolens zu Deutschland oder Polen ging. Später arbeitete er zeitweise als polnischer Konsul in Oppeln. Als Józefas Mutter 1923 starb – Józefa war zu dem Zeitpunkt gerade drei Jahre alt, kehrte Daniel Kęszycki auf den Hof zurück. Józefa besuchte ein Internat und war Mitglied bei den Pfadfindern, wo sie neben Geländekunde und dem Morse-Alphabet die in Polen übliche patriotische Erziehung genoss, nachdem der Staat nach den polnischen Teilungen erst 1918 erneut eigenständig geworden war. 1938 machte Józefa Abitur. Sie wollte, wie ihre älteste Schwester Mita Ärztin werden. Am 1. September 1939 überfielen die Nazis Polen. Die Ehefrau von Józefas Bruder Wojciech, Maria Kęszycka, schreibt in einer Email an die Lagergemeinschaft dazu:

„Der Grundbesitz der Kęszyckis war groß. Als die Wehrmacht in Wielkopolska eintraf, bedeutete dies für die Bewohner*innen des Palastes, entweder mit einem Bündel in der Hand abzureisen oder darauf zu warten, bis ein deutscher Treuhänder den Besitz übernahm. Das aber war gefährlich, denn die Deutschen verfügten über schwarze Listen. Auf deren Grundlage wurden Großgrundbesitzer und Angehörige der Intelligenz erschossen. Auch Daniel Kęszycki befand sich auf einer solchen Liste, war aber bereits 1936 gestorben. Der Bruder Józefas, Antoni, war zum Militär einberufen worden und im Herbst 1939 bei den Kämpfen ums Leben gekommen. Die drei Jüngsten (also Józka, Stefan und Wojciech) reisten im November 1939 zu ihrer ältesten Schwester Mita nach Warschau. Stefan war 21 Jahre alt, Józka 19 und Wojtek 17. Alle drei engagierten sich sofort im Widerstand, in der Tajna Armia Polska, der polnischen Untergrundarmee.“ Józefas Bruder Stefan wurde im Frühjahr 1940 festgenommen und laut eines Augenzeugen in Mauthausen in einer Kloake ertränkt.

Józefa war Redakteurin der Untergrund-Zeitung „Znak“ ihrer Organisation,
arbeitete in deren illegalen Druckerei in der Narbutta mit und verteilte die
Publikation. Ab September 1940 identifizierte und verhaftete die Gestapo mehrere Mitglieder ihrer Gruppe und kam im Zuge dessen auch Józefa auf die Spur. Sie wurde im November 1940 verhaftet und in das berüchtigte Warschauer Gefängnis Pawiak verbracht. Józefa Kęszycka nahm bei den Verhören die gesamte Verantwortung auf sich und rettete so Kameradinnen das Leben. Sie wurde zum Tode verurteilt. Ein Dreivierteljahr später, am 23. September 1941 kam sie in einem Sondertransport politischer Gefangener aus Lublin und Warschau nach Ravensbrück und erhielt die Lagernummer 7745.

Im Lager traf sie auf ihre Tante Eliza Cetkowska, die ebenfalls aufgrund ihrer Untergrundaktivitäten verhaftet worden war, die Stellung einer Blockältesten in Ravensbrück innehatte und sich ihrer Nichte annahm. Aus einer Mail von Maria Kęszycka: „Als Józka vom Pawiak nach Ravensbrück gebracht wurde, wusste die Familie, dass sich Eliza dort bereits befand […]. Und sie rechnete damit, dass Józka gemeinsam mit ihr durchhalten würde. […] Und obwohl Józka im Pawiak das Todesurteil erhalten hatte, rechnete man nicht damit, dass es im Lager vollstreckt werde. Aus den Erzählungen von Eliza weiß ich, dass Józka voller Hoffnung war, dass die Tatsache, dass sie ins Lager gekommen sei, bedeute, dass die Deutschen das Todesurteil vergessen hatten. Eines Tages habe man ihr die Kleidung gegeben, mit der sie nach Ravensbrück transportiert worden war, und sie ging davon aus, dass sie frei gelassen und aus dem Lager herauskommen werde. Aber das war nur die deutsche Ordnung: Schau: hier sind deine Sachen. Niemand hat sie dir weggenommen. Aber über deinen Tod entscheiden wir. Als die Exekution verkündet wurde, ging Józka – wie andere – noch einmal zu einer Kameradin, um sich die Haare schneiden zu lassen, um entsprechend auszusehen bei ihrem letzten Ausruf: Niech żyje Polska (Es lebe Polen!). Und zu Eliza sagte sie: ‚Mama, schau morgen – es sollte eine sternenklare Nacht werden – zum letzten Stern des Großen Bären. Von ihm aus werde ich dir zuzwinkern.‘ Ich muss daran erinnern, dass Eliza nach dem Tod von Józkas Mutter Julia den acht Kindern von Daniel Kęszycki sehr nahestand. […] Józka liebte sie und alle anderen – so wie auch ich – sagten unser ganzes Leben lang zu ihr: Mutter.“ Soweit Maria Kęszycka, die Schwägerin von Józefa.

Die politische Gefangene Karolina Lanckorońska, die seit Januar 1943 in
Ravensbrück gefangen war, berichtete in ihrer Autobiografie zu den Hinrichtungen: „Damals verstand ich, wie praktisch die Deutschen sind. Anstatt diese jungen und kräftigen Frauen direkt nach ihrer Verhaftung in Polen zu ermorden, schafften sie sie hierher, liessen sie hart ein oder zwei Jahre für sich arbeiten und erschossen sie erst dann kaltblütig.“ Und Lanckorońska berichtete von einem Gespräch mit ihrer Stubenältesten über eine Exekution von Polinnen, ich zitiere: „Wir wissen jetzt, was passieren wird, sagte die Stubenälteste, wenn einige politischen Polinnen aus derselben Gruppe auf einmal in den Bunker müssen. Und sie wissen es auch. Als es im vergangenen Jahr das erste Mal geschah, wusste niemand, was los ist. Daher tranken die Kameradinnen damals ein Getränk, das sie betäubte. Das lehnen sie jetzt immer ab. Sie erlauben es auch nicht, ihnen die Augen zu verbinden, und alle ohne Ausnahme sterben mit dem Ausruf: ‚Es lebe Polen!‘ – ‚Aber woher weißt du das alles?‘ – ‚Ganz einfach. Mit dem Bunker stehen wir ständig im Kontakt. Und was bei den Exekutionen passiert, wissen wir ganz genau. Das Exekutionskommando der SS hat bei jeder Exekution das Recht, in der SS Kantine ohne Einschränkung frei zu essen und zu trinken. Hier arbeiten aber Polinnen. Die SS betrinkt sich danach immer bis zur Besinnungslosigkeit und dann erzählen sie sich alle Einzelheiten der Exekution.“

Józefa Kęszycka wie auch Krystyna Niemirycz, Stanisława Czech und Józefa
Paluszek wurden am 16. Juli 1942 in Ravensbrück erschossen.

April 2021
Text: Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e.V.

Hier gibt es den Text als PDF zum Herunterladen: